Multiple Sklerose
Multiple sclerosis
Entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, die mit Entmarkungsherden einhergeht.
Vermutlich lokale immunvermittelte Entzündung. Anhand des Tiermodells der experimentell-autoimmunen Enzephalomyelitis geht man von einer primär T-Zell-vermittelten Entzündung mit früher Störung der Blut-Hirn-Schranke und nachfolgendem Gewebeschaden aus. Autoreaktive T-Lymphozyten, welche gegen myelinbasisches Protein gerichtet sind, werden über noch hypothetische Mechanismen aktiviert. Die Aktivierung könnte durch virale oder bakterielle Infektionen oder Kontakt mit Superantigenen viralen oder bakteriellen Ursprungs entstehen. Nach Aktivierung können die T-Lymphozyten die Blut-Hirn-Schranke passieren. Erkennen die autoreaktiven T-Lymphozyten ihr antigenes Peptid auf antigenpräsentierenden Zellen im Kontext mit MHC-II-Antigenen, kommt es zur lokalen Entzündungsreaktion im Gehirn. Nachfolgend werden Zytokine freigesetzt mit Aktivierung von Makrophagen und Mikroglia, in deren Folge werden myelinschädigende Substanzen freigesetzt. Plasmazellen tragen zur Bildung von Antikörpern gegen Myelinscheiden bei. Anfänglich wirken der Entzündungsreaktion reparierende und entzündungslimitierende Mechanismen entgegen. Bei wiederholten Entzündungsreaktionen erhält die Entzündungsreaktion eine geringere Spezifität und die reparierenden Vorgänge nehmen ab.
Man unterscheidet fünf pathogene Muster, wobei sich Axonschädigung, Makrophagen- und Mikrogliaaktivierung und Ausmaß und Muster der Oligodendrozytenschädigung unterscheiden.
Inzidenz in Nordamerika und Nordeuropa: 1 : 1000, im Süden geringere Inzidenz; Männer : Frauen = 1 : 1,2–2.
Symptome |
Erstmanifestation (in %) |
Im Krankheitsverlauf (in %) |
Paresen, meist mit schmerzhafter Spastik einhergehend |
45 |
90 |
Sensibilitätsstörungen, nicht selten fleckförmig, Lagesinn gestört, Pallhypästhesie |
40 |
85–90 |
Optikusneuritis, Schleiersehen, Visusverlust |
30 |
60–70 |
Doppelbilder, Aufhebung der Sakkaden, internukleäre Ophthalmoplegie |
20 |
30 |
Ataxie |
15 |
60 |
Ermüdbarkeit |
20 |
80 |
Schmerzen, häufig Trigeminusneuralgie |
2 |
ca. 40 |
Lhermitte-Zeichen |
3 |
30 |
Dysarthrie |
2 |
50 |
Tremor |
4 |
50 |
Autonome Störungen |
15 |
80 |
Kognitive Störungen |
2 |
50–70 |
Psychische und kognitive Störungen treten oft im fortgeschrittenen Stadium auf. In 5 % der Fälle kann es auch zu epileptischen Anfällen kommen. Man unterscheidet einen schubförmigen von einem primär progredienten Verlauf. 80 % der Erkrankungen verlaufen primär schubförmig mit kompletter oder inkompletter Rückbildung der Symptome. Bei der primär progredienten Form tritt als Erstmanifestation häufiger eine progressive Paraparese auf und es besteht keine Bevorzugung des weiblichen Geschlechts. Zudem sind die Patienten tendenziell älter.
Sonderformen
Klinik (Poser-Kriterien): Auftreten mehrerer klinischer Symptome, welche durch Läsionen unterschiedlicher ZNS-Regionen bedingt sind und zu unterschiedlichen Zeitpunkten bestehen.
Magnetresonanztomographie: multiple zerebrale Läsionen (> 3 Läsionen), signalreiche Herde in T2-gewichteten Sequenzen und Protonendichteaufnahmen, Größe > 5 mm, angrenzend an Seitenventrikel, Nähe zur Cella media, infratentorielle Lage, Aktivität der Herde (Gadolinumaufnahme). Mit dem „diffusion weighted imaging“-Verfahren kann zwischen Entzündung und Demyelinisierung unterschieden, mithilfe des Magnetisierungstransfers die Demyelinisierung gezeigt werden.
Labor: Liquoruntersuchung zeigt leichte Pleozytose mit Plasmazellen, Erhöhung der IgG-Produktion mit oligoklonalen Banden.
Elektromyographie (evozierte Potentiale): Verzögerung der P100 bei visuell evozierten Potentialen (VEP), Verzögerung der zentralen Leitungszeit bei motorisch und somatisch evozierten Potentialen (MEP, SEP).
Vaskuläre Läsionen, spinale Symptomatik, zervikale Myelopathie, Infektionen.
Multidisziplinär
Kortikoidpulstherapie nach Ausschluss von Harnwegsinfekt und einer Tuberkulose (Röntgen: Thorax).
Spasmolytische Therapie (Spastik); symptomatische Therapien zur Behandlung der Schmerzen, Fatigue, Tremor, Blasenentleerungsstörungen, Obstipation, Sexualstörungen; ausgewogene kalorisch ausreichende Diät; Physiotherapie, Ergotherapie, psychologische Betreuung.
Schubförmiger Verlauf: Interferontherapie, Glatirameracetat, Mitoxantron, Azathioprin, intravenöse Gabe von Immunglobulinen; chronisch-progredienter Verlauf: Betaferon, Methotrexat, Azathioprin, Mitoxantron.
Siehe medikamentöse Therapie.
Im Allgemeinen keine reduzierte Lebenserwartung, benigne multiple Sklerose bei 30–40 % der Patienten (zehn Jahre nach Diagnose, voll gehfähig, geringe Beeinträchtigung), 50 % benötigen zu diesem Zeitpunkt eine Gehhilfe und haben eine deutlich eingeschränkte Gehstrecke, 10 % der Patienten sind nach zehn Jahren bettlägerig. Im Einzelfall ist der Verlauf nicht vorherzusehen. Günstig sind geringe Schubzahl, weibliches Geschlecht, schubförmiger Verlauf, sensible Störungen als Erstmanifestation, früher Krankheitsbeginn.
Schlechte Prognose: akute multiple Sklerose (Typ Marburg), Devic-Syndrom (Neuromyelitis optica), Baló-Syndrom (konzentrische Sklerose), Schilder-Erkrankung.
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