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Unterschenkel, Kompartmentsyndrom

Synonyme

Logensyndrom

Englischer Begriff

Compartment syndrome (acute; exertional)

Definition

Erhöhter Gewebedruck innerhalb eines von Faszien umschlossenen Raums, welcher zu einer reduzierten kapillären Durchblutung führt und damit zu einer neuromuskulären Dysfunktion.

Vorkommen

Kompartmentsyndrome können akut oder chronisch entstehen; die häufigste Lokalisation ist der Unterschenkel. Am Unterschenkel werden vier Kompartimente unterschieden: das laterale, das anteriore, das oberflächliche posteriore und das tiefe posteriore Kompartiment. Einige Autoren haben Unterteilungen dieser Kompartimente beschrieben, wobei der M. tibialis posterior teilweise isoliert betroffen ist und somit auch als fünftes Kompartment bezeichnet wird. In den vier großen Kompartimenten verlaufen vier große Nerven. Diagnostisch wichtig können deren korrespondierende sensorische Innervationsgebiete sein: Im lateralen Kompartiment verläuft der N. peroneus superficialis, im anterioren der N. peroneus profundus, im posterior-superfiziellen der N. suralis und im posterior-profunden der N. tibialis.

Das akute Syndrom ist typischerweise Folge eines Traumas. Tibiafrakturen, Kompressionstraumata, Muskelrupturen oder zirkumferentielle Verbrennungen sind die häufigsten Ursachen. Akute Kompartmentsyndrome folgen auch ischämischen Phasen, nach einer Unterbrechung des arteriellen Kreislaufs. Gefäßverletzungen oder Embolien zum Beispiel, mit einer Ischämiezeit von über vier Stunden, führen in der Regel zu einem Kompartmentsyndrom durch ein postischämisches Ödem.

Das chronische Syndrom wird auch als Belastungskompartmentsyndrom oder belastungsinduziertes Kompartmentsyndrom bezeichnet und kommt häufig bei Laufsportlern vor. Typischerweise sind die Sportler außerhalb der Saison asymptomatisch, bekommen aber zunehmende Schmerzen in der betroffenen Loge während der Trainingsphasen. Die Schmerzen nehmen während der Belastung zu und können für einige Stunden bis zum nächsten Tag nach Belastung anhalten. Die genaue zugrunde liegende Pathophysiologie ist nicht klar. Der Einfluss einer Ischämie als Ursache in der Entwicklung des chronischen Syndroms wird kontrovers diskutiert. In ca. 40 % der Fälle können Muskelhernien durch Fasziendefekte nachgewiesen werden, im Vergleich zu einer Prävalenz von ca. 5 % in der Normalbevölkerung.

Diagnostik

Das akute Kompartmentsyndrom am Unterschenkel ist eine klinische Diagnose. Typisch sind unverhältnismäßig starke Schmerzen zur klinischen Situation, Schwellung, Druckdolenz und Verhärtung der betroffenen Loge. Dys- und Hypästhesien im Innervationsgebiet der korrespondierenden Hautnerven sind sichere, aber oft späte Zeichen. Oft ist die Haut über den Logen gespannt und spiegelt. Passive Bewegungen der betroffenen Muskulatur verursachen Schmerzverstärkung. Schon der Verdacht anhand dieser klinischen Zeichen rechtfertigt eine Notfallfasziotomie. Die Fußpulse bleiben meist erhalten und auch der Zehennagel-Druck-Test als Zeichen einer kompromittierten kapillären Durchblutung ist kein gültiger Indikator.

Nadel- und Kathetermanometrie können einen erhöhten Logendruck objektivieren. Dabei ist ein Druck von über 30 mm Hg generell mit einer Interruption der kapillären Durchblutung assoziiert und kann zu ischämischen Muskel- und Nervenläsionen führen.

Indikationen zur Fasziotomie am Unterschenkel bei akutem Kompartmentsyndrom:

  • absolute Indikationen:
    1. klinische Symptome eines Kompartmentsyndroms,
    2. Druckmessung > 35 mm Hg,
    3. Druckmessung > 30 mm Hg über 6 Stunden,
    4. Ischämie am Unterschenkel von über 4 Stunden;
  • relative Indikationen:
    1. schwere zirkumferentielle Verbrennungen,
    2. Kompressionstrauma des Unterschenkels.

Das chronische Kompartmentsyndrom ist primär eine Verdachtsdiagnose durch die typische pathognomische Anamnese. Die Diagnose wird durch den Nachweis eines erhöhten intrakompartimentalen Drucks nach Belastung oder eine verlangsamte Erholung nach Belastung durch Nadel- und Kathetermanometrie gestellt. Normale Druckwerte in Ruhe liegen unter 15 mm Hg und können bei Muskelkontrakion 80 mm Hg übersteigen. Nach spätestens 15 Minuten sollte der Kompartmentdruck wieder normalisiert sein. Dabei muss beachtet werden, dass Knie- und Sprunggelenkstellung sowie Unterschenkelbelastung während den Messungen standardisiert sind.

Magnetresonanztomographie, Szintigraphie, Ultraschall und konventionelle Röntgenbilder können zum Ausschluss von assoziierten Krankheiten und Verletzungen dienen.

Indikation zur Fasziotomie am Unterschenkel bei chronischem Kompartmentsyndrom:

  1. Ruhedruck im Kompartment > 15 mm Hg,
  2. Druckmessung eine Minute nach Belastung > 30 mm Hg,
  3. Druckmessung fünf Minuten nach Belastung > 20 mm Hg.

Differenzialdiagnose

Tiefe Beinvenenthrombose, Zellulitis, Phlegmone.

Therapie

Akuttherapie

Die Therapie des akuten Kompartmentsyndroms ist die notfallmäßige Fasziotomie aller betroffenen Kompartimente. Eine Dekompression innerhalb von vier Stunden führt generell zu keinen bleibenden neuromuskulären Schäden. Nach zwölf Stunden ist regelmäßig von einer irreversiblen Schädigung auszugehen.

Bei dem chronischen Kompartmentsyndrom kann die Dekompression elektiv durchgeführt werden.

Konservative/symptomatische Therapie

Aktuell gibt es keine konservative Therapie für das akute und das chronische Kompartmentsyndrom. Studien mit Therapieversuchen für das chronische Kompartmentsyndrom mit Trainings- oder Schuhmodifikationen und nicht-steroidalen Antiphlogistika blieben ohne Erfolg, falls das präsymptomatische Niveau der Sportaktivität wieder erreicht werden sollte.

Operative Therapie

Es sind verschiedene Verfahren zur Spaltung aller betroffenen Kompartimente beschrieben worden. Isolierte mediale oder laterale Zugänge erschweren die kontrollierte Spaltung der fernen Logen, sind dafür kosmetisch etwas vorteilhafter. Etabliert hat sich die Spaltung aller Logen im akuten Fall über einen Längszugang, ca. 1–2 cm medial der Tibiakante, und einen zweiten Zugang lateral zwischen Tibia und Fibula. Die Logen sollten mindestens 20 cm in Längsrichtung eröffnet werden. Zusätzlich müssen intraoperative Druckmessungen ein persistentes Logensyndrom der Untereinheiten, z. B. der Tibialis-posterior-Loge, ausschließen und deren Logen ebenfalls dekomprimiert werden.

Die endoskopische subkutane Spaltung eignet sich für isoliert betroffene oberflächliche Logen bei chronischen Kompartmentsyndromen.

Bewertung

Im akuten Fall ist die Funktion der Extremität in Gefahr. Eine sichere Dekompression aller bedrohten Strukturen ist notwendig. Die Wahl minimaler Zugänge für ein besseres kosmetisches Ergebnis ist nicht gerechtfertigt, falls dadurch eine unzureichende Fasziotomie oder ein Risiko für Gefäße und Nerven entsteht. Das kosmetische Ergebnis wird durch das Aufnähen von Kunsthaut bis zum definitiven Wundverschluss verbessert.

Bei chronischen Kompartmentsyndromen können ohne Zeitdruck eine genaue Diagnostik durchgeführt und eine isolierte Dekompression des betroffenen Kompartiments mit Rücksicht auf die Kosmetik geplant werden.

Nachsorge

In den meisten Fällen sind Patienten mit akutem Kompartmentsyndrom durch ihre primäre Verletzung oder Krankheit immobilisiert. Ansonsten ist postoperativ ein Hochlagern zum Abschwellen der Weichteile indiziert. Beim akuten Logensyndrom richtet sich der Wundverschluss nach dem Rückgang des Weichteilödems. Durch Einbringen von Gummizügel kann ein schrittweiser Wundverschluss beschleunigt werden. Die Kunsthaut muss in regelmäßigen Abständen ausgewechselt werden.

Das chronische Kompartmentsyndrom kann auf ambulanter Basis operiert werden. Postoperativ kann ein elastischer Verband ein Hämatom verringern. Für die ersten Tage können Stöcke trotz erlaubter Vollbelastung hilfreich sein. Leichte Dehnungs- und Bewegungsübungen dürfen bereits unmittelbar postoperativ begonnen werden. Normalerweise ist der Heilungsvorgang nach zwei Wochen abgeschlossen, die Symptome sind gering und eine graduelle Rückkehr zur präsymptomatischen Aktivität kann begonnen werden.

Autor

Geert I. Pagenstert

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