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Idiotie, amaurotische

Synonyme

Tay-Sachs-Krankheit

Englischer Begriff

Tay-Sachs disease; Batten disease

Definition

Die amaurotische Idiotie gilt heute eigentlich nicht mehr als eigenständige Entität, sondern fällt unter den Begriff der neuronalen Ceroidlipofuscinosen (NCL). In Deutschland läuft die NCL-Krankheit auch noch unter dem Begriff VSS-Syndrom (nach den Ärzten Vogt, Spielmeyer und Stock).

Die Tay-Sachs-Krankheit stellt eine familiäre, bei Juden vorkommende Krankheit dar, die mit Demenz und spastischen Gliederlähmungen, mit Abnahme des Sehvermögens bis zur Erblindung mit besonderem Augenbefund einhergeht. Sie beginnt im Säuglingsalter, Tod meist gegen Ende des zweiten Jahrs. Ein juveniler Typus (benannt nach Vogt und Spielmeyer) ist nicht auf Juden beschränkt und ohne den kennzeichnenden Augenbefund.

Pathogenese

1881 beschrieb der britische Augenarzt Warren Tay erstmals die Tay-Sachs-Krankheit. Sie ist die am längsten bekannte Glykosphingolipid-Speicherkrankheit. Tay beschrieb sie als „infantile amaurotische Idiotie“, gekennzeichnet durch Blindheit, verlangsamtes Wachstum, motorische Störungen und einen vergrößerten Kopf. Sie führt im Alter von drei bis fünf Jahren zum Tode (Tay 1881). Das aufgeblähte Zytoplasma in den Neuronen bemerkte der amerikanische Neurologe Bernard Sachs bei betroffenen Patienten. Ihm fiel auch die starke Verbreitung der Krankheit unter der jüdischen Bevölkerung auf. Er prägte daher die Bezeichnung „familiäre amaurotische Idiotie“ (Sachs 1887). Das Gangliosid GM2, das zum Anwachsen der Nervenzellen führt, wurde erst viel später identifiziert (Svennerholm 1962) und strukturell charakterisiert (Makita und Yamakawa 1963). Dadurch ergab sich die Basis für ein molekulares Verständnis der Tay-Sachs-Krankheit. Der betroffene Schritt ist der Abbau des Gangliosids GM2 zu GM3, der nur von der Hexosaminidase-Isoform HexA unter der Beteiligung des Aktivatorproteins GM2AP katalysiert wird. Eine Mutation im Gen HexA führt zu einem Fehlen aktiver α-Untereinheiten. Die β-Hexosaminidase-Isoformen HexA und HexS sind bei Tay-Sachs-Patienten vollständig inaktiv. Inaktiv und aktiv ist dagegen HexB als β2-Homodimer (siehe Gravel 2001).

Ahnliche Speicherkrankheiten, wie die Sandhoff-Krankheit oder die GM2-Aktivatorprotein-Defizienz, sind gekennzeichnet durch Defekte der kodierenden Gene für die β-Untereinheit der Hexosaminidasen und des Aktivatorproteins GM2AP. Allerdings werden bei der Sandhoff-Krankheit nicht nur das Hirn, sondern auch die inneren Organe geschädigt.

Daher werden die drei Krankheiten zusammen als GM2-Gangliosidosen bezeichnet.

Die drei GM2-Gangliosidosen weisen eine große Bandbreite an klinischen Phänotypen auf, die von frühkindlichen, schnell fortschreitenden neurodegenerativen Formen, die vor dem Alter von vier Jahren zum Tode führen, bis zu subakuten, späteinsetzenden oder chronischen Formen mit deutlich milderem Verlauf reicht. Symptome wie Psychosen und progressive Dystonie finden sich bei den chronischen Verlaufsformen. Asymptomatisch bleiben heterozygote Träger der entsprechenden Defekte. GM2-Gangliosidosen weisen demnach einen autosomal-rezessiven Erbgang auf. Die Frequenz heterozygoter Mutationen im HexA-Gen in der allgemeinen Bevölkerung wird auf 0,006 und im HexB-Gen auf 0,0036 geschätzt.

Vor allem in der Bevölkerung mit jüdischer Abstammung liegt die Zahl der Träger aber deutlich höher. Derzeit gibt es keine spezifische Therapie gegen GM2-Gangliosidosen.

Enzymersatz- oder Gentherapie wird derzeit in Tierversuchen erprobt. Eventuell bietet sich in der Zukunft die Möglichkeit einer Transplantation von neuronalen Vorläuferstammzellen.

Symptome

Meist wird bei den Kindern mit vier bis sechs Jahren zuerst eine beginnende Sehschwäche festgestellt, die sehr schnell (innerhalb von zwei bis vier Jahren) in völlige Blindheit übergeht. Halluzinationen treten auf und die Kinder pendeln zwischen heftigen Aggressionen und tiefen Depressionen, Gedächtnis- und Sprachverlust folgen. Im weiteren Verlauf treten Orientierungsverlust, völliges Fehlen von Tag-Nacht-Rhythmus und fortschreitender geistiger Abbau sowie Veränderung des Aussehens auf. Die Kinder bauen völlig ab, sitzen schließlich im Rollstuhl und sind sehr früh inkontinent. Zunächst gelegentlich, später mehrmals täglich treten epileptische Anfälle mit allen bekannten Begleiterscheinungen auf. Zuletzt müssen die Kinder künstlich ernährt werden, der Körper verliert die letzten Abwehrkräfte und irgendwann verstirbt das Kind. Meist werden die Kinder zu Hause versorgt. Die Eltern erleben so den schwierigen Gang ihrer Kinder in völlige Hilflosigkeit bis hin zur Sterbebegleitung.

Der Krankheitsausbruch bei der infantilen und spätinfantilen NCL beginnt bereits im Säuglings- bzw. im Kleinkindesalter. Die Erkrankung verläuft wesentlich schneller als bei der juvenilen NCL. Daraus ergeben sich zum Teil auch Unterschiede bei der medizinischen und sozialen Betreuung, insbesondere bei integrativen Maßnahmen.

Diagnostik

Amaurose, Demenz, Epilepsie, Lymphozytenvakuolen im Blutausstrich, genetische Untersuchungen, Hautbiopsie, Elektronenmikroskopie.

Differenzialdiagnose

Sehr vielfältig.

Therapie

Fehlende kausale Therapie, genetische Beratung der Familie.

Autor

Johannes Mortier

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