Engelhardt (Hrsg.)
Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie

Primitivreflexe

Synonyme

Frühkindliche Reflexe

Englischer Begriff

Neonatal reflexes

Definition

Reflexe, welche in den ersten Lebenswochen physiologisch sind und im Laufe der Ausreifung des Großhirns, des Neostriatums und der Pyramidenbahn unterdrückt werden.

Beschreibung

Die frühkindlichen Reflexe werden vorwiegend über die Haut und das Vestibularorgan ausgelöst. Der Reflexbogen läuft über phylogenetisch alte Strukturen, über Thalamus und Pallidum ohne Beteiligung des Großhirns. Fehlen, Seitenasymmetrie oder längeres Persistieren der Reflexe deuten auf eine Hirnschädigung. Die Reflexe dienen vorwiegend der Nahrungsaufnahme und dem Festhalten an der Mutter.

Es werden folgende Reflexe unterschieden:

Reflexe der Nahrungsaufnahme

  • Saugreflex: Bestreichen der Wange führt zum Verziehen des Mundes und zur Kopfdrehung zum Reiz, das Berühren der Lippen löst kräftige Saugbewegungen aus. Der Reflex verschwindet im dritten Lebensmonat. Bis zu diesem Zeitpunkt läuft auch der Schluckvorgang beim Füttern reflektorisch.
  • Bei schwerer Hirnschädigung können auch beim Erwachsenen orale Greifreflexe durch Bestreichen der Wange oder Berühren der Lippen ausgelöst werden. Bei schwerer Schädigung kann der Kranke an dem Gegenstand, der angesaugt wurde und zwischen Ober- und Unterkiefer gehalten wird, vom Bett hochgezogen werden (Bulldogreflex).

Reflexe des Lage- und Bewegungssinns

  • Palmarer Greifreflex: Bestreichen der Handinnenfläche führt zum Beugen der Finger; der Reflex verschwindet nach dem ersten Lebensjahr. Analog lässt sich bis zum elften Lebensmonat an den Füßen bei Bestreichen der Fußsohle eine Zehenbeugung auslösen.
  • Ähnliche Greifreflexe lassen sich beim Menschen bei allgemeiner Hirnschädigung nachweisen; Berührungsreize der Handinnenfläche führt zum Handschluss, Strecken der gebeugten Finger zum Hakeln.
  • Schreitphänomen: Beim Berühren der Unterlage führt der Säugling im ersten Lebensmonat Schreitbewegungen aus. Bei Druck auf die Fußsohle werden die Gelenke des betroffenen Beins gestreckt (Stehbereitschaft), während die Gelenke des Gegenbeins gebeugt werden (Aufrichtungsreflex bis zum sechsten Monat).
  • Galant-Reflex (Rückgratreflex): Auslösung von Kriechbewegungen in Bauchlage durch Bestreichen des Rückens nahe der Wirbelsäule. Es erfolgt eine Seitwärtsbeugung der Wirbelsäule zur gereizten Seite hin. Der Reflex ist bis maximal zum sechsten Lebensmonat auslösbar, kann aber auch schon im dritten Lebensmonat verschwinden.
  • Tonische Nackenreflexe werden durch eine Änderung des Kopfs zum Rumpf erzeugt.
  • Asymmetrischer tonischer Nackenreflex (Fechterstellung): Drehung des Kopfs zur Seite bewirkt Streckung und Tonuserhöhung des dem Gesicht zugewandten Arms, häufig gleichsinnige Bewegung der Beine. Der Reflex ist bis zum sechsten Lebensmonat auslösbar.
  • Symmetrischer tonischer Nackenreflex: Neigung des Kopfs nach hinten erzeugt eine beidseitige Streckung und Tonuserhöhung der oberen Extremität bei gleichzeitiger Beugung der unteren Extremität. Bei Neigung des Kopfs nach vorn kommt es zum umgekehrten Muster mit Beugung der Arme und Streckung der Beine. Beim Persistieren des Reflexes kann das Kind nicht kriechen.
  • Tonische Labyrinthstellreflexe werden durch eine Änderung von Kopf und Körperstellung im Raum erzeugt.
  • Der Moro-Reflex ist ein tonischer Labyrinthstellreflex. Der Reflex wird durch laute Geräusche, Erschütterung der Unterlage, plötzliches Zurückfallenlassen des Kopfs ausgelöst. Die Reflexantwort verläuft in zwei Phasen. Zunächst breitet das Kind die Arme mit gestreckten Fingern aus und führt sie dann über der Brust zusammen. Der Reflex verschwindet zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr.
  • Okulozephaler Reflex (Puppenkopfphänomen): Zurückbleiben der Bulbi bei Kopfdrehung, auslösbar bis zum zehnten Tag.
  • Fluchtreflexe: Bestreichen der Fußsohle führt zum Zurückziehen des Beins (Fluchtreflex), Heben des äußeren Fußrands (Monakow-Zeichen) und Dorsalflexion der Zehen (entspricht Babinski-Zeichen).
  • Sprungbereitschaft (ab sechstem Lebensmonat): Rasches Absenken eines frei im Raum in Bauchlage gehaltenen Kindes führt zum Vorstrecken der Arme und Abstützen mit geöffneten Händen (Schaltenbrand-Reflex).
  • Stellreflexe, die ab dem zweitem Lebensmonat und besonders aktiv ab dem sechsten Lebensmonat nachweisbar sind:
  • Halsstellreflexe: Nach Seitwärtsdrehung des Kopfs folgt der Körper als Ganzes.
  • Körperstellreflexe: Nach Seitwärtsdrehung des Kopfs folgt zunächst der Schultergürtel, dann das Becken (ab viertem Lebensmonat).
  • Labyrinthstellreflexe ermöglichen Kopfhebung aus Bauchlage ab dem zweiten Lebensmonat, aus Rückenlage ab dem vierten bis sechsten Lebensmonat, sind ab Ende des ersten Lebensjahrs nicht mehr auslösbar.

Autor

Iris Reuter