Engelhardt (Hrsg.)
Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie

Schmerzskoliose

Synonyme

Ischiasskoliose

Englischer Begriff

Sciatic scoliosis

Definition

Schmerzbedingte Seitneigung des Rumpfs bei bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule.

Pathogenese

Als ursächlich wird eine unilaterale Tonuserhöhung der Rückenmuskulatur angenommen, die sich reflektorisch aus einer Irritation einer Nervenwurzel entwickelt. Durch die Neigung zur Gegenseite wird das Foramen intervertebrale erweitert und der bei einem Bandscheibenvorfall mögliche Druck von kaudal auf die Nervenwurzel reduziert. Liegt der Bandscheibenvorfall kranial der Nervenwurzel, findet sich eine Schmerzreduktion durch ipsilaterale Seitneigung der Wirbelsäule.

Symptome

Die Patienten demonstrieren eine auffällige Seitneigung des Rumpfs, die oft von einer Vorneigung begleitet ist. Berichtet wird über eine plötzliche Schmerzausstrahlung über das Gesäß in das Bein, die unter Einnahme dieser Zwangshaltung subjektiv zu lindern ist. Auch Rückenschmerzen in wechselnder Intensität sind möglich. Husten, Niesen oder Pressen führen in der Regel zu einer Schmerzverstärkung.

Diagnostik

Die schmerzbedingte Zwangshaltung besteht in einer Seitneigung der Wirbelsäule sowie einer Vorbeugung des Oberkörpers. Die Lordosierung der Lendenwirbelsäule ist meist abgeflacht. Meist liegen diffuse Druck- und Klopfschmerzhaftigkeit über dem thorakolumbalen Wirbelsäulenabschnitt vor, wobei meist auch das Kreuz-Darmbein-Gelenk und die Valleix-Druckpunkte als schmerzhaft angegeben werden. Der Tonus der Rückenstreckmuskulatur auf der konkaven Seite ist deutlich erhöht. Die Beweglichkeit des betreffenden Wirbelsäulenabschnitts ist früh schmerzhaft eingeschränkt. Nervendehnungszeichen (Lasègue-Zeichen) können ebenso wie segmentale Sensibilitätsstörungen, abgeschwächte oder fehlende Reflexe sowie eine Schwäche der Kennmuskulatur auf ein radikuläres neurologisches Defizit hinweisen.

Eine elektrophysiologische fachneurologische Untersuchung ist bei zweifelhaften Befunden und zum Ausschluss von Differentialdiagnosen empfehlenswert. Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule sind geeignet, knöcherne Veränderungen abzugrenzen und indirekte Zeichen einer Bandscheibendegeneration (z. B. Erniedrigung des Zwischenwirbelraums) darzustellen. Magnetresonanztomographien sind zur Darstellung der nervalen Strukturen der Computertomographie überlegen. Kombiniert werden können beide Verfahren mit einer Myelographie.

Differenzialdiagnose

Irritationen des Kreuz-Darmbein-Gelenks, Tumoren des Spinalkanals, epiduraler Abszess, Erkrankungen der Nieren oder der ableitenden Harnwege, Erkrankungen von Uterus oder Ovarien, Erkrankungen des Dickdarms.

Therapie

Der Bandscheibenprolaps selbst ist therapeutisch nicht zu beeinflussen. In Abhängigkeit von den beklagten Beschwerden und der Befundkonstellation können jedoch eine Vielzahl von konservativen und operativen Behandlungsoptionen eingesetzt werden, um die Irritation der Nervenwurzel zu reduzieren.

Akuttherapie

Liegen keine neurologischen Ausfallerscheinungen vor, die ein invasives Vorgehen erfordern, steht primär die analgetische Behandlung im Vordergrund. Diese besteht in einer entlastenden Lagerung (Stufenbettlagerung für die Lendenwirbelsäule, extendierende Orthese für die Halswirbelsäule) und der Gabe hochdosierter Antiphlogistika und Myotonolytika. Dies kann im Bedarfsfall mit Steroiden und Diuretika kombiniert werden.

Neurologische Ausfallerscheinungen können bei Nachweis eines ursächlichen Bandscheibenvorfalls die Indikation zu einem sofortigen operativen Vorgehen darstellen.

Konservative/symptomatische Therapie

Die konservative Therapie umfasst eine Vielzahl symptomatischer Maßnahmen, die auf das Erreichen einer Schmerzlinderung, einer muskulären Stabilisierung und einer Verhaltensschulung ausgerichtet sein können. Nach Abklingen der akuten Phase können gezielte Injektionen mit Lokalanästhetika und/oder Kortikosteroiden (z. B. epidurale Umflutungen, Nervenwurzelblockaden, Facetteninfiltrationen, Triggerpunktbehandlung) zu einer vorübergehenden Beschwerdefreiheit führen. Die Physiotherapie umfasst je nach Befundkonstellation physikalische Maßnahmen (Galvanik, Diadynamik, hochfrequenter Reizstrom, Wärmeanwendungen), Extensionsbehandlungen (Schlingentisch) und die Anleitung zur Durchführung eines isometrischen Trainingsprogramms. Verhaltensschulen („Rückenschule“) sind erforderlich, um das Ausmaß der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten zu reduzieren.

Mieder, Orthesen oder Korsette werden nur selten als vorübergehende externe Stabilisation oder zur Entlordosierung der Lendenwirbelsäule eingesetzt.

Medikamentöse Therapie

Die medikamentöse Therapie besteht, abgesehen von der analgetischen Behandlung der Akutphase, in der Gabe von Antiphlogistika mit langer Halbwertzeit, was gegebenenfalls mit muskelrelaxierenden Medikamenten kombiniert werden kann.

Operative Therapie

Das Ausmaß der operativen Therapie richtet sich nach dem vorliegenden Befund sowie der beklagten Beschwerdesymptomatik. Die mikroskopisch assistierte offene Nukleotomie beinhaltet die Entfernung der prolabierten Bandscheibenanteile mit anschließender Dekompression der Nervenwurzel. Da es sich bei Ischiasskoliosen ursächlich meist um einen Massenprolaps oder einen sequestrierten Bandscheibenvorfall handelt, kommt den perkutanen Verfahren zur Verkleinerung der zentralen Bandscheibenregion (mikroskopisch assistierte perkutane Nukleotomie, MAPN; intradiskale Elektrothermotherapie, IDET; perkutane lumbale Laser-Diskektomie, PLLD) nur eine untergeordnete Bedeutung zu.

Dauertherapie

Gezielte isometrische Übungen zur Kräftigung der Muskulatur sollten dauerhaft fortgeführt werden. Wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten sollten insbesondere unter Berücksichtigung der angrenzenden Bewegungssegmente vermieden werden.

Bewertung

Die überwiegende Mehrheit an Ischiasskoliosen kann durch eine konsequent geführte konservative Behandlung beherrscht werden. Ein operatives Vorgehen bleibt den Patienten mit akuten und nicht frühzeitig reversiblen neurologischen Ausfallerscheinungen vorbehalten.

Nachsorge

Eine Behandlungsbedürftigkeit ist bis zum Abklingen der Schmerzsymptomatik gegeben. Da es sich bei der Ischiasskoliose auf dem Boden einer Bandscheibendegeneration um ein nicht kausal zu therapierendes chronisches Leiden handelt, sind wiederkehrende Schmerzattacken häufig. Perspektivisch sollte die Aufklärung über das Grundleiden mit der Notwendigkeit zur Rückenschule und Gewichtskontrolle erfolgen.

Operativ behandelte Bandscheibenerkrankungen sind nach Erreichen einer suffizienten muskulären Führung und Beherrschen des selbständig durchzuführenden Trainingsprogramms nicht mehr behandlungsbedürftig.

Autor

Renée Fuhrmann