Engelhardt (Hrsg.)
Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie

Bandscheibenprolaps

Synonyme

Diskusprolaps; Bandscheibenvorfall

Englischer Begriff

Disk herniation; Prolapsed disk

Definition

Krankhafte posteriore oder posterolaterale Verlagerung von Bandscheibengewebe mit Schwächung oder Riss des Anulus fibrosus und erhaltenem Lig. longitudinale posterius (selten: anteriorer Bandscheibenprolaps der Halswirbelsäule).

Pathogenese

Das Bandscheibengewebe unterliegt einem physiologischen Alterungsprozess. Die Konzentration der für die reversible Wasserbindung verantwortlichen Makromoleküle wird altersabhängig geringer. Zusätzlich verändert sich auch die qualitative molekulare Zusammensetzung des Gewebes. Beide Faktoren reduzieren die Elastizität der Bandscheibe und wirken sich nachteilig auf ihre mechanische Funktion (druckelastisches System) aus.

Inwieweit eine körperlich schwere Arbeit mit häufigen Hebe- und Tragebelastungen zur Ausbildung einer dem alterstypischen Ausmaß vorauseilenden Degeneration von Bandscheiben zur Folge haben kann, wird trotz der zwischenzeitlich anerkannten Berufskrankheit unverändert kontrovers diskutiert. Unbestritten ist jedoch, dass die Vorbeugung des Rumpfs und eine Hebe- bzw. Tragebelastung zu einer Drucksteigerung im Lenden- und Halswirbelsäulenbereich führen können.

Aufgrund der eingeschränkten Regenerationsfähigkeit von Bandscheibengewebe kommt es selbst bei einer akuten Schädigung des Anulus fibrosus nicht zum Ausheilen, was eine akute oder allmähliche Verlagerung des Nucleus-pulposus-Gewebes nach posterior (selten: an der Halswirbelsäule auch nach anterior) ermöglicht. Wenn die äußeren Schichten des Anulus fibrosus geschwächt oder rupturiert sind, kann das zentrale Bandscheibengewebe „prolabieren“. Das Lig. longitudinale posterius bleibt dabei intakt.

Symptome

Die Beschwerden können je nach Ausmaß und Lokalisation der Bandscheibendegeneration (meist lumbal oder zervikal) variieren. Ein Bandscheibenvorfall (Prolaps) führt in Abhängigkeit von seiner Lokalisation meist zur Kompression neuraler Strukturen, was mit einer radikulären Schmerzsymptomatik oder dem Ausfall vegetativer Funktionen (Blasen- und Mastdarmkontrolle) einhergehen kann. Eine intrathorakale oder intraabdominelle Druckerhöhung (Husten, Niesen, Pressen) kann zu einer Schmerzverstärkung führen. Eine Schonhaltung des betreffenden Wirbelsäulenabschnitts ist häufig. Die paravertebrale Muskulatur kann einen erhöhten Tonus aufweisen.

Chronische Bandscheibendegenerationen führen zu einer Höhenminderung des betreffenden Bewegungssegments. Dies hat eine vermehrte mechanische Belastung der Wirbelgelenke (Spondylarthrose) mit Entwicklung einer lokalen Schmerzsymptomatik zur Folge.

Diagnostik

Die klinische Untersuchung umfasst die segmentale Befunderhebung am betreffenden Wirbelsäulenabschnitt einschließlich der betreffenden Extremitäten, der Iliosakralgelenke und des Gefäßstatus an den Extremitäten. Zusätzlich muss eine neurologische Untersuchung einschließlich der Überprüfung pathologischer Nervendehnungszeichen (z. B. Lasègue-Test) durchgeführt werden. Die neurologische Untersuchung lässt bei klinischen Zeichen einer Wurzelkompression (radikuläre Schmerzsymptomatik, dermatombezogene Sensibilitätsminderung, Reflexabschwächung bzw. -ausfall, Schwäche der Kennmuskeln) eine Höhenlokalisation vermuten. Eine elektrophysiologische fachneurologische Untersuchung ist bei zweifelhaften Befunden und zum Ausschluss von Differentialdiagnosen empfehlenswert.

Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule sind geeignet, knöcherne Veränderungen abzugrenzen und indirekte Zeichen einer Bandscheibendegeneration (z. B. Erniedrigung des Zwischenwirbelraums) darzustellen. Magnetresonanztomographien sind zur Darstellung der nervalen Strukturen der Computertomographie überlegen (Abb. 1). Kombiniert werden können beide Verfahren mit einer Myelographie.



Bandscheibenprolaps in den beiden unteren LWS-Segmenten

Differenzialdiagnose

Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule (z. B. Spondylarthrose, Spinalkanalstenose), tumoröse Erkrankungen (z. B. Plasmozytom) oder Metastasen können ebenso wie entzündliche Veränderungen (z. B. Spondylodiszitis, Borreliose, Herpes zoster, rheumatische Erkrankungen) oder Stoffwechselerkrankungen (z. B. Ochronose) zu einer vergleichbaren Schmerzsymptomatik führen. Neurologische Erkrankungen (z. B. multiple Sklerose, Polyneuropathien) und periphere Nervenkompressionssyndrome müssen ebenfalls ausgeschlossen werden.

Therapie

Der Bandscheibenprolaps selbst ist therapeutisch nicht zu beeinflussen. In Abhängigkeit von den beklagten Beschwerden und der Befundkonstellation können jedoch eine Vielzahl von konservativen und operativen Behandlungsoptionen eingesetzt werden.

Akuttherapie

Die akute Schmerzsymptomatik wird im Rahmen einer Bandscheibendegeneration meist durch eine intradiskale Gewebeverschiebung (Bandscheibenprolaps) hervorgerufen. Liegen keine neurologischen Ausfallerscheinungen vor, die ein invasives Vorgehen erfordern, steht primär die analgetische Behandlung im Vordergrund. Diese besteht in einer entlastenden Lagerung (Stufenbettlagerung für die Lendenwirbelsäule, extendierende Orthese für die Halswirbelsäule) und der Gabe hochdosierter Antiphlogistika. Dies kann im Bedarfsfall mit Steroiden und Diuretika kombiniert werden.

Neurologische Ausfallerscheinungen können bei Nachweis eines ursächlichen Bandscheibenvorfalls die Indikation zu einem sofortigen operativen Vorgehen darstellen.

Konservative/symptomatische Therapie

Die konservative Therapie umfasst eine Vielzahl symptomatischer Maßnahmen, die auf das Erreichen einer Schmerzlinderung, einer muskulären Stabilisierung und einer Verhaltensschulung ausgerichtet sein können. Nach Abklingen der akuten Phase können gezielte Injektionen mit Lokalanästhetika und/oder Kortikosteroiden (z. B. epidurale Umflutungen, Nervenwurzelblockaden, Facetteninfiltrationen, Triggerpunktbehandlung) zu einer vorübergehenden Beschwerdefreiheit führen. Die Physiotherapie umfasst je nach Befundkonstellation physikalische Maßnahmen (Galvanik, Diadynamik, hochfrequenter Reizstrom, Wärmeanwendungen), Extensionsbehandlungen und die Anleitung zur Durchführung eines isometrischen Trainingsprogramms. Verhaltensschulen („Rückenschule“) sind erforderlich, um das Ausmaß der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten zu reduzieren.

Mieder, Orthesen oder Korsette werden nur selten als vorübergehende externe Stabilisation oder zur Entlordosierung der Lendenwirbelsäule eingesetzt.

Medikamentöse Therapie

Die medikamentöse Therapie besteht, abgesehen von der analgetischen Behandlung der Akutphase, in der Gabe von Antiphlogistika mit langer Halbwertzeit, was gegebenenfalls mit muskelrelaxierenden Medikamenten kombiniert werden kann.

Operative Therapie

Das Ausmaß der operativen Therapie richtet sich nach dem vorliegenden Befund sowie der beklagten Beschwerdesymptomatik. Die mikroskopisch assistierte offene Nukleotomie beinhaltet die Entfernung der prolabierten Bandscheibenanteile mit anschließender Dekompression der Nervenwurzel. An der Halswirbelsäule kann eine anteriore oder posteriore Foraminotomie mit anteiliger Entfernung der lateralen Bandscheibenanteile erfolgen, wenn die Nervenwurzelkompression im Vordergrund steht. Möglich ist die Verkleinerung der zentralen Bandscheibenregion auch durch mikroskopisch assistierte perkutane Nukleotomie (MAPN), intradiskale Elektrothermotherapie (IDET) oder Lasertherapie (perkutane lumbale Laser-Diskektomie, PLLD).

An der Lendenwirbelsäule kann bei einem Massenprolaps die Implantation einer Bandscheibenprothese zur Aufrechterhaltung des Zwischenwirbelraums und Entlastung der Wirbelgelenke sinnvoll sein. An der Halswirbelsäule wird die konventionelle Operation eines Bandscheibenprolaps meist mit der Implantation eines Platzhalters aus alloplastischem Material oder einer Spondylodese kombiniert.

Dauertherapie

Gezielte isometrische Übungen zur Kräftigung der Muskulatur sollten dauerhaft fortgeführt werden. Wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten sollten insbesondere unter Berücksichtigung der angrenzenden Bewegungssegmente vermieden werden.

Bewertung

Die überwiegende Mehrheit an Bandscheibendegenerationen kann durch eine konsequent geführte konservative Behandlung beherrscht werden. Ein operatives Vorgehen bleibt den Patienten mit akuten und nicht frühzeitig reversiblen neurologischen Ausfallerscheinungen vorbehalten.

Nachsorge

Eine Behandlungsbedürftigkeit ist bis zum Abklingen der Schmerzsymptomatik gegeben. Da es sich bei der Bandscheibendegeneration um ein nicht kausal zu therapierendes chronisches Leiden handelt, sind wiederkehrende Schmerzattacken häufig. Perspektivisch sollte die Aufklärung über das Grundleiden mit der Notwendigkeit zur Rückenschule und Gewichtskontrolle erfolgen.

Operativ behandelte Bandscheibenerkrankungen sind nach Erreichen einer suffizienten muskulären Führung und Beherrschen des selbständig durchzuführenden Trainingsprogramms nicht mehr behandlungsbedürftig.

Autor

Renée Fuhrmann