Engelhardt (Hrsg.)
Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie

Zehenfehlbildung

Synonyme

Polydaktylie; Oligodaktylie; Klinodaktylie; Hallux varus congenitus; Riesenwuchs; Syndaktylie

Englischer Begriff

Polydactylism; Oligodactyly; Clinodactyly; Congenital hallux varus; Gigantism; Syndactyly

Definition

Angeborene Missbildungen der Zehenstrahlen.

Pathogenese

Handelt es sich um eine isolierte Zehenmissbildung, ist die Ätiologie retrospektiv meist nicht feststellbar. Häufiger kommen die Fehlbildungen an den Zehen jedoch zusammen mit komplexen Missbildungssyndromen der unteren Extremitäten vor.

Symptome

Bei der überzähligen Anlage von Zehenstrahlen (Polydaktylie) ist in Abhängigkeit von den betroffenen Strukturen der Fuß verbreitert. Im Lauf des Wachstums kann sich dieser Befund verstärken, so dass es beim Befall zentraler Zehenstrahlen zur Achsenabweichung und räumlichen Bedrängung angrenzender Zehenstrahlen kommen kann. Zusätzlich kann es durch den verbreiterten Vorfuß zu Problemen im Konfektionsschuhwerk kommen.

Ein fehlender Zehenstrahl (Oligodaktylie) führt zu einer Verschmälerung des Vorfußes, wohingegen ein hypoplastischer Zehenstrahl durch seine Unterentwicklung auffällt.

Achsenfehlstellungen der Kleinzehen distal des Kleinzehengrundgelenks sind oftmals durch eine trapezförmige Fehlanlage der Mittelphalanx bedingt (Klinodaktylie). Sie führen oft zu einer Sub- oder Superduktionsstellung und beeinträchtigen daher auch benachbarte Zehen. Der Riesenwuchs einer Zehe betrifft alle Gewebe und kann zu einer erheblichen Überlänge und einer räumlichen Abdrängung der benachbarten Zehenstrahlen führen. Kutane Verschmelzungen einzelner (Syndaktylie) oder aller Zehen, wie z. B. beim Apert-Syndrom, können die gesamte Zehenlänge oder auch nur den zentralen Teil der Kommissur betreffen. Der Hallux varus congenitus ist durch die nach medial gerichtete Achsenabweichung des ersten Strahls auffällig. Meist sind der Mittelfuß bzw. die mediale Fußwurzel mitbetroffen, so dass es sich um ein komplexes Missbildungssyndrom handelt.

Diagnostik

Die Ausbildung zusätzlicher Zehenanlagen (Polydaktylie) kann ausschließlich die distale Phalanx oder auch die übrigen Phalangen und den Mittelfußknochen betreffen. Fehlende oder unterentwickelte Zehenstrahlen (Oligodaktylie) betreffen meist die Randstrahlen. Röntgenologisch lässt sich das Ausmaß der Fehlanlage klassifizieren, wobei Synostosen oder Formstörungen der Mittelfußknochen häufig sind. Distale Achsenfehlstellungen der Kleinzehen sind meist kontrakt und lassen sich röntgenologisch auf eine Formstörung der Mittelphalanx zurückführen (Klinodaktylie). Die von einem Riesenwuchs betroffene Zehe weist klinisch einen eindeutigen Befund auf. Röntgenologisch lässt sich die skelettale Vergrößerung quantifizieren. Syndaktylien führen zu einem klinisch eindeutigen Befund, wobei komplexe Missbildungssyndrome (z. B. Apert-Syndrom) ausgeschlossen werden müssen. Der Hallux varus congenitus muss röntgenologisch abgeklärt werden, um das Ausmaß der Mitbeteiligung des Mittelfußknochens bzw. der medialen Fußwurzel beurteilen zu können.

Therapie

Überzählige Zehenstrahlen werden meist operativ durch Abtragung behandelt. Fehlende oder hypoplastische Zehenstrahlen, Achsenabweichungen der Kleinzehen (Klinodaktylie) oder der Riesenwuchs eines Zehenstrahls sind nur behandlungsbedürfig, wenn sie ein Fehlwachstum der benachbarten Zehen oder des restlichen Fußes induzieren oder das Gehen trotz einer Schuhversorgung sehr erschwert ist. Die Trennung isolierter kutaner Syndaktylien wird meist von den Eltern unter kosmetischen Gesichtspunkten gefordert. Grundsätzlich sollte die Indikation aber im Kindesalter streng gestellt werden, solange keine funktionelle Beeinträchtigung resultiert. Die erforderlichen Hauttransplantate führen im weiteren Wachstum oft zur Ausbildung hypertropher Narben und erfordern weitere operative Korrekturen. Beim Hallux varus congenitus sind in aller Regel nur operative Maßnahmen, deren Ausdehnung sich an der Deformität orientiert, erfolgversprechend.

Akuttherapie

Je nach Ausbildung der Fehlanlage können frühzeitig redressierende Verbände oder Schienen angelegt werden, die im Sinn einer Wuchslenkung wirken sollen.

Konservative/symptomatische Therapie

Ab dem Beginn des Laufalters müssen bei Ausbildung überzähliger Zehenstrahlen (Polydaktylie) oft angepasste orthopädische Schuhe angefertigt werden, die dem betreffenden Fuß ausreichend Platz bieten. Handelt es sich um eine Oligodaktylie mit hypoplastischen oder fehlenden Zehenstrahlen, wird für das Kind ein entsprechend angepasstes Schuhwerk hergestellt, das den Fuß ausreichend bettet.

Operative Therapie

Bei Polydaktylien wird die operative Therapie, d. h. die komplette Entfernung des überzähligen Zehenstrahls, meist wegen Problemen mit dem Konfektionsschuhwerk durchgeführt. Günstigster Zeitpunkt dafür ist das Vorschulalter. Klinodaktylien, die zu einer Bedrängung benachbarter Zehen führen, können durch Korrekturosteotomien begradigt werden. Oft sind Korrekturarthrodesen des Mittel- oder Endgelenks nicht zu umgehen. Operative Eingriffe zur Reduktion eines von Riesenwuchs betroffenen Zehenstrahls führen oft zu einem funktionell und kosmetisch unbefriedigenden Ergebnis, so dass die Amputation erforderlich wird. Die Trennung kutaner Syndaktylien erfordert neben einer exakten Planung der Hautinzision die Transplantation von Hautarealen, die bei Kindern meist aus der Leistenregion entnommen werden können. Die operative Therapie des Hallux varus congenitus orientiert sich an der individuellen Fehlstellung des ersten Strahls und reicht von Weichteilmaßnahmen (Entspannung der medialen Weichteile und Arthrolyse) bis zu komplexen Korrekturosteotomien und Sehnentranspositionen.

Dauertherapie

Die Versorgung mit Einlagen, Schuhzurichtungen oder orthopädischem Schuhwerk kann in Abhängigkeit von der Schwere der Fehlbildung lebenslang erforderlich sein.

Bewertung

Fehlanlagen der Zehenstrahlen sind prinzipiell nur behandlungsbedürftig, wenn sie zu funktionellen Einschränkungen führen oder ein Fehlwachstum benachbarter Zehenstrahlen induzieren. Auf operative Eingriffe aus kosmetischer Indikation sollte vor allem bei Kindern verzichtet werden, um Rezidiveingriffen durch die Ausbildung hypertropher Narben vorzubeugen.

Nachsorge

Alle Zehenfehlanlagen, die eine Mitbeteiligung knöcherner Elemente aufweisen, sollten zumindest bis zum Abschluss des Wachstums kurzfristig kontrolliert werden, um die Entwicklung des Fußes hinsichtlich der erforderlichen Therapiemaßnahmen beurteilen zu können.

Autor

Renée Fuhrmann