Engelhardt (Hrsg.)
Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie

Neuromuskuläre Erkrankungen

Synonyme

Myasthene Syndrome

Englischer Begriff

Neuromuscular disease; Myasthenic syndromes

Definition

Erkrankungen, die die Informationsübertragung von Nerven auf die Muskelendplatte beeinträchtigen.

Pathogenese

Störung der neuromuskulären Erregungsüberleitung. Häufigste Form der neuromuskulären Erkrankung: Myasthenia gravis (durch Autoantikörper gegen nikotinerge Acetylcholinrezeptoren verursacht). Jedoch finden sich bei 10 % der Erkrankten keine Antikörper. Patienten ohne Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren zeigen jedoch zu 60–70 % Antikörper gegen positive muskelspezifische Tyrosinkinase. In mehr als 50 % der Fälle beginnt die Myasthenie als okuläre Myasthenie und generalisiert ohne Behandlung innerhalb von zwei bis drei Jahren.

Die Myasthenie hat eine Inzidenz von 0,2–0,4 auf 100.000 Einwohner und eine Prävalenz von fünf bis zwölf Erkrankungen pro 100.000 Einwohner. Ein erster Krankheitsgipfel liegt in der zweiten bis dritten Lebensdekade, wobei Frauen zwei- bis dreimal häufiger erkranken als Männer. Der zweite Erkrankungsgipfel liegt im sechsten bis siebten Lebensjahrzehnt, wobei in diesem Alter Männer häufiger als Frauen erkranken.

Lambert-Eaton-Syndrom: 50–70 % paraneoplastisch bedingt bei kleinzelligem Bronchialkarzinom. Im Gegensatz zur Myasthenie ist die Erkrankung bei Männern häufiger als bei Frauen. Die Inzidenz liegt bei 0,3 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner. Pathophysiologisch liegt eine präsynaptische Störung mit Störung der Neurotransmitterfreisetzung vor. Bei 90 % der Patienten sind Antikörper gegen präsynaptische spannungsgeregelte Kaliumkanäle vom PQ-Typ und gegen die Alpha-1-Untereinheit nachweisbar. Letztere wird auch von Tumorzellen exprimiert.

Kongenitale myasthene Syndrome: heterogen, vermutlich autosomal-rezessiver Erbgang.

Slow-channel-Syndrom: langsame Kanalöffnungszeit, autosomal-dominanter Erbgang.

Alle Acetylcholinrezeptor-Antikörper negativ.

Symptome

Myasthenie: belastungsabhängige Ermüdbarkeit der Muskulatur, Schwäche meist bilateral symmetrisch; im Verlauf verschiedene Muskelgruppen betroffen.

Okuläre Myasthenie: äußere Augenmuskeln und Lidheber (Doppelbilder, Ptose), bulbäre Symptome eher bei älteren Patienten.

Lambert-Eaton-Syndrom: oft proximale Schwäche der Beine, Verbesserung nach wiederholter Muskeltätigkeit (warming-up).

Diagnostik

Anamnese und neurologische Untersuchung.

Neurophysiologie, Neurographie: bei der Myasthenie rasche Ermüdung bei niedrigfrequenter Serienreizung (3 Hz) mit einem Dekrement (Abnahme der Amplitude des Muskelsummenpotentials vom 1.–5. um 30 %); beim Lambert-Eaton-Syndrom bei hochfrequenter Serienreizung (30 Hz) Amplitudenzunahme um 100 % (ab 25 % verdächtig).

Labor: bei der Myasthenie Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren (Anti-AChR-AK), bei antikörpernegativer Myasthenie Anti-Musk-Antikörper (Anti-MUSK-AK); beim Lambert-Eaton Syndrom bei 90 % der Patienten Nachweis von Antikörpern gegen präsynaptische spannungsgeregelte Kaliumkanäle vom PQ-Typ und gegen die Alpha-1-Untereinheit (Anti-VGC-AK).

Coputertomographie des Thorax: Frage nach Thymom; kraniale Magnetresonanztomographie: Ausschluss einer intrakraniellen Raumforderung.

Differenzialdiagnose

Medikamenteninduzierte Myasthenie, Motoneuronenerkrankungen, Bulbärparalyse, Polyradikulitis, Polymyositis, dyskaliämische periodische Lähmungen, intrakranielle Raumforderung.

Therapie

Myasthenie: Mestinon-Gabe bzw. Immunsuppression, gegebenenfalls Thymektomie.

Lambert-Eaton-Syndrom: Tumorbehandlung, sporadisch Immunsuppression. Verstärkung der Symptome durch Mestinon.

Akuttherapie

Bei Myasthenie und bei therapierefraktärem Lambert-Eaton-Syndrom: Plasmapherese, d. h. Entfernung aller nicht-korpuskulärer Bestandteile (Antikörper, Immunglobuline, Mediatoren und Gerinnungsfaktoren) durch Membranfilter. Immunadsorption: selektive Entfernung der Immunglobuline über regenerierbare Protein-A-Säulen oder Tryptophan-gekoppeltes Polyvinylalkoholgel.

Konservative/symptomatische Therapie

Physiotherapie

Medikamentöse Therapie

Myasthenie: symptomatische Therapie mit Inhibitoren der Acetylcholinesterase, z. B. Pyridostigmin (Mestinon), Prostigmin (Neostigmin); immunmodulatorische Therapie mit Glukokortikoide (mit Osteoporoseprophylaxe), Azathioprin, Ciclosporin A, Cyclophosphamid.

Lambert-Eaton-Syndrom: 3,4-Diaminopyridin (3,4-DAP), Immunsuppressiva (Azathioprin, Methotrexat, Ciclosporin A).

Kongenitale Myasthenie: Mestinon außer bei Slow-channel-Syndrom oder Acetylcholinesterasemangel, Verstärkung der Symptome unter Mestinon.

Operative Therapie

Myasthenie: Thymektomie (Indikation: Thymom), unabhängig von der Altersgruppe. Patienten im Alter von 11–45 Jahren profitieren am stärksten, Patienten mit seronegativer Myasthenie und über 60 Jahren profitieren wenig bzw. nicht von der Thymektomie.

Dauertherapie

Siehe medikamentöse Therapie.

Bewertung

Die meisten Patienten benötigen Immunsuppressiva, ca. 10 % der Patienten kommen mit Acetylcholinesteraseinhibitoren aus. Myasthene (krankheitsinduzierte) und cholinerge (therapieinduzierte) Krisen komplizieren den Verlauf. Cave: Bei der Narkose sollte Succinylcholin (depolarisierendes Muskelrelaxans) nicht verwendet werden. Patienten benötigen postoperativ oft eine längere Nachbeatmung.

Nicht zu verwendende Medikamente: Benzodiazepine, Lokalanästhetika vom Esterase-Typ, Antiarrhythmika (Procain, Chinidin, Chinin), Antimalariamittel (Chloroquin), Phenhydan, Carbamazepin, Beta-Blocker, Aminoglykoside, vereinzelt Verschlechterung unter Gyrasehemmern, D-Penicillamin.

Nachsorge

Dauertherapie

Autor

Iris Reuter