Engelhardt (Hrsg.)
Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie

Muskelatrophie, spinale

Englischer Begriff

Spinal muscular atrophy

Definition

Progrediente Muskelschwäche infolge Degeneration des 2. motorischen Motoneurons im Vorderhorn und der motorischen Kerngebiete der Hirnnerven.

Pathogenese

Vorkommen 1 : 6000–1 : 10.000. Die spinalen Muskelatrophien (SMA) gehören zu einer genetisch und klinisch heterogenen Gruppe von Erkrankungen. Man unterscheidet die proximalen Formen (spinale Muskelatrophie Typ I–IV) von denen mit distalen Verteilungsmuster oder mit Hirnnervenbeteiligung. Die Erkrankungen sind hereditär, wobei die SMA Typ I–IV autosomal-rezessiv vererbt werden. Für diese Gruppe konnte das verantwortliche Gen auf Chromosom 5 lokalisiert werden (5q11.2–q13.3). Es konnten Deletionen der telometrischen Kopie im Survival-motoneuron-Gen (SMN), seltener auch Punktmutationen und Deletionen im Neuronal-apoptosis-inhibitor-protein-Gen (NAIP) nachgewiesen werden. Bei Beginn der Erkrankung im Erwachsenenalter ist der Erbgang autosomal-dominant. 10 % der Muskelatrophien gehören der Gruppe der distalen Muskelatrophien an. Die Gruppe der distal betonten Muskelatrophien sind genetisch heterogen und können sowohl autosomal-dominant als auch autosomal-rezessiv vererbt werden. Der bulbospinale Typ Kennedy wird X-chromosomal-rezessiv verebt, der Genlokus ist bekannt (Xq12).

Symptome

Proximale Muskelatrophien

Bei allen Formen sind die proximale Bein- und Beckengürtelmuskulatur bevorzugt betroffen, erst später wird die distale Muskulatur einbezogen. Die Muskeleigenreflexe fallen im Verlauf der Erkrankung aus. Die Kreatinkinase kann leicht erhöht sein, die sensible Nervenleitgeschwindigkeit ist normal, die motorische kann bei schweren Formen reduziert sein, das Interferenzmuster ist gelichtet. Die Muskelbiopsie zeigt eine chronisch neurogene Schädigung, teilweise Fasertypengruppierung.

Man unterscheidet die autosomal-rezessiv vererbte akute kindliche Form (Werdnig-Hoffmann, häufigste Form) von der chronisch infantilen Form (SMA Typ II, intermediärer Typ), die juvenile Form (Kugelberg-Welander, SMA Typ III) und die adulte Form (SMA Typ IV). Bei der SMA Typ I erlernen die Kinder das Sitzen nicht und die meisten Kinder sterben bis zum zweiten Lebensjahr. Bei der Geburt fallen die Kinder als „floppy infants“ auf. Die Chance, das zehnte Lebensjahr zu überleben, beträgt 8 %. Bei der SMA Typ II wird zwar das Sitzen erlernt, aber das Gehen nicht, die Kinder erreichen das Erwachsenenalter, 77 % überleben das 20. Lebensjahr. Die Progredienz der Erkrankung ist langsamer und es wechseln sich Phasen des Krankheitsstillstands mit denen der Verschlechterung ab. Die SMA Typ III verläuft wesentlich gutartiger und befällt neben der proximalen Bein- auch die proximale Armmuskulatur. Die Lebenserwartung ist nur gering reduziert.

Sehr selten ist die SMA Typ IV, welche erst nach dem 30. Lebensjahr auftritt und oft nur geringe Paresen erzeugt.

Nicht-proximaler Verteilungstyp

Bevorzugt ist die distale Muskulatur betroffen, jedoch sind auch Schädigungen der proximalen Muskulatur zu finden. Die distale Form Duchenne-Aran mit einem Krankheitsbeginn in der dritten und vierten Lebensdekade manifestiert sich bevorzugt an Arm und Hand. Die Erkrankung tritt sporadisch auf.

Der peroneale Typ kann sowohl im Kindesalter als auch im Erwachsenenalter auftreten und befällt Unterschenkel- und Fußregion. Die Erkrankung tritt sowohl sporadisch als auch autosomal-dominant und autosomal-rezessiv auf.

Bei der skapuloperonealen Form erfolgt der Beginn der Erkrankung zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr, bevorzugt betroffen sind Unterschenkel und Schultergürtel, der Erbgang ist autosomal-dominant.

Die skapulohumerale Form betrifft den Schultergürtel und das Gesicht, wird überwiegend autosomal-dominant vererbt und tritt im Jugendalter auf.

Das Kennedy-Syndrom wird als spinobulbäre Form X-chromosomal vererbt, es liegt ein verlängertes CAG-Repeat im Androgenrezeptor-Gen vor. Die Erkrankung befällt Männer um das 20. Lebensjahr, beginnt mit Muskelkrämpfen, Faszikulationen und Haltetremor. Zwischen dem 20. und 60. Lebensjahr entwickeln die meisten Patienten eine Dysarthrie, Dysphagie, Zungenatrophie, Schwäche der Gesichtmuskulatur und langsam fortschreitende proximale Paresen. Davon abzugrenzen sind die rasch progredienten Formen der progressiven Bulbärparalyse, die meist im Kindesalter auftreten, seltener auch mit autosomal-dominantem Erbgang im Erwachsenenalter.

Diagnostik

Laborchemische Untersuchungen: Blutbild, BSG, Kreatinkinase (CK; in 30 % der Fälle erhöht), Immunelektrophorese, Vitamin B12, Vitamin D, Schilddrüsenparameter, Parathormon, Anti-Gangliosid-Antikörper, Liquoruntersuchung (Lumbalpunktion); Elektromyographie (EMG): motorische Elektroneurographie (NLG) einschließlich der Beurteilung der rumpfnahen Abschnitte (neurogene Veränderungen); sensible Elektroneurographie (NLG); motorisch und somatosensorisch evozierte Potentiale (MEP, SSEP); Röntgenaufnahme des Thorax und der Halswirbelsäule; kraniale und spinale Magnetresonanztomographie; Muskel- und/oder Nervenbiopsie (Muskelbiopsie: felderförmige Atrophie); molekulargenetische Untersuchung.

Differenzialdiagnose

Muskeldystrophien (insbesondere bei der SMA Typ II), radikuläre Syndrome, amyotrophe Lateralsklerose (bulbospinale Formen, distale Formen).

Therapie

Konservative/symptomatische Therapie

Orthesen zur Stabilisierung und Funktionsverbesserung von Gelenken, z. B. Kopfstütze, Peroneusschiene; Sondennahrung bei Trinkschwäche; nicht-invasive Beatmung, Heimbeatmung.

Medikamentöse Therapie

Kreatin: Substanz, welche für den Energiestoffwechsel der Muskeln wichtig ist. Ziel ist die Verbesserung der maximalen Leistungsfähigkeit und die Erholungsfähigkeit der Muskulatur. Es gibt auch Hinweise, dass es zu einer Verbesserung der neuromuskulären Funktion kommt. Inwiefern die Substanz neuroprotektiv wirkt, ist nicht abschließend geklärt; im Tierexperiment gibt es Hinweise auf eine mögliche Neuroprotektion. Kreatin wird für zehn Tage in einer Dosierung von 10 g/Tag mit reichlich Flüssigkeit verteilt auf zwei bis drei Tagesportionen, später in einer Dosierung von 4 g/Tag eingenommen. Intermittierend wird eine zwei- bis vierwöchige Therapiepause empfohlen.

Dauertherapie

Krankengymnastik, Ergotherapie, orthopädische Behandlung, physikalische Behandlung.

Bewertung

Fortschreitende Erkrankungen, keine heilende Therapie bisher möglich.

Autor

Iris Reuter