Engelhardt (Hrsg.)
Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie

Morbus Scheuermann

Synonyme

Scheuermann-Krankheit; Adoleszentenkyphose; Lehrlingsrücken; Osteochondrosis deformans juvenilis dorsi

Englischer Begriff

Scheuermann’s disease; Scheuermann’s kyphosis; Juvenile kyphosis; Vertebral epiphysitis

Definition

Anlagebedingte Wachstumsstörung der anterioren Wirbelkörper mit Störung der sagittalen Wirbelsäulenform.

Pathogenese

Die Ursache der Erkrankung ist unbekannt. Eine endogene Disposition wird ebenso wie eine übermäßige Belastung der Wirbelsäule in Kombination mit einer schwachen Rückenmuskulatur diskutiert. Die Aufbaustörung der vorderen Wirbelkörperanteile in Höhe der knorpeligen Randleisten führt zur Ausbildung einer keilförmigen Deformierung der betroffenen Wirbelkörper. Die reduzierte mechanische Festigkeit dieser Regionen kann dazu führen, dass das Bandscheibengewebe aufgrund seines hohen Weichteildrucks in die Deckplatte prolabiert (intraossäre Bandscheibenhernien, Schmorl-Knötchen). Daraus kann eine Höhenminderung des Zwischenwirbelraums resultieren. Im Lauf des Wachstums ist die Erkrankung progredient, was neben der reduzierten mechanischen Festigkeit des vorderen Wirbelkörpers einer Mitbeteiligung der Epiphysenfugen zugesprochen wird.

Symptome

Betroffen sind meist männliche Jugendliche im Alter zwischen 11 und 14 Jahren (Inzidenz 0,4–10 %). Typisch sind dumpfe Rückenschmerzen, die als nicht lokalisierbar angegeben werden. Oft ist auch die Formveränderung der Brustwirbelsäule (Rundrücken, Kyphose) vordergründig, die von den Eltern als schlechte Haltung interpretiert wird.

Diagnostik

Bei der Untersuchung imponiert bei thorakalem Befallsmuster eine übermäßige Kyphosierung der Brustwirbelsäule, die mittelfristig durch eine verstärkte Lordosierung der Lendenwirbelsäule und Vorneigung des Beckens kompensiert wird. Die Haltung ist neben der Kyphose durch nach vorn hängende Schultern gekennzeichnet. Ist der thorakolumbale Übergang betroffen, erscheint die Lendenlordose im oberen Bereich abgeflacht oder sogar kyphosiert. Die Rückenmuskulatur ist meist schwach ausgebildet. Zusätzliche Seitverbiegungen der Wirbelsäule sind möglich. In den Anfangsstadien ist die Kyphosierung der Wirbelsäule noch aktiv ausgleichbar, später kann sie strukturell fixiert sein. Beim Vorbeugen erkennt man beim typischen Befall der Brustwirbelsäule oft einen kyphotischen Scheitel, der etwa in Höhe des achten Brustwirbelkörpers liegt. Der Armvorhaltetest nach Matthiass lässt oft eine muskelschwache Haltung erkennen. Druck- oder Klopfschmerzen über der Wirbelsäule werden nur selten beklagt. Neurologische Defizite fehlen.

Beweisend ist die radiologische Untersuchung des betreffenden Wirbelsäulenabschnitts im seitlichen Strahlengang (Abb. 1). Typische ist die unruhige und wellige Struktur der vorderen Deckplattenanteile, an denen sich rundliche Aufhellungszonen (Schmorl-Knötchen) zeigen können. Mitunter ist die den intraossären Bandscheibenhernien gegenüberliegende Region der Grundplatte vorgewölbt und sklerosiert (Endgren-Zeichen). Bei längerem Verlauf sind die Wirbelkörper keilförmig deformiert, wobei deren dorsoventraler Durchmesser vergrößert sein kann. Die Diagnose des Morbus Scheuermann sollte erst gestellt werden, wenn mindestens drei Wirbelkörper die typischen röntgenologischen Zeichen aufweisen und die Keilform jedes Wirbelkörpers mindestens 5° beträgt. Die Kyphose der Brustwirbelsäule beträgt mehr als 45°, wobei der Scheitel im Bereich des siebten bis neunten Brustwirbelkörpers liegt. Betrifft die Erkrankung mehr den thorakolumbalen Wirbelsäulenabschnitt, liegt der Scheitel der Deformität in Höhe des zehnten bis zwölften Brustwirbelkörpers.


Abb. 1.
Radiologische Darstellung der Wirbelsäule im seitlichen Strahlengang mit vorderem Kantenabbruch, intraspongiöser Diskushernie (Schmorl-Knötchen) und verschmälertem Intervertebralraum

Differenzialdiagnose

Konstitutionelle Haltungsschwäche, Hyperkyphosierung der Brustwirbelsäule durch angeborene Erkrankung der Wirbelsäule, Folgen einer Wirbelkörperfraktur, einer tumorösen Destruktion oder entzündlichen Veränderung. Selten können Systemerkrankungen (ankylosierende Spondylitis, Rachitis, Marfan-Syndrom, Neurofibromatose) ursächlich sein.

Therapie

Die Behandlung des Morbus Scheuermann ist in aller Regel konservativ. Beträgt die thorakale Kyphosierung jedoch mehr als 60–70° (Normalwert < 40°), kann eine operative Stellungskorrektur erwogen werden.

Akuttherapie

Analgetika, Antiphlogistika.

Konservative/symptomatische Therapie

Wesentlicher Bestandteil der konservativen Therapie ist die intensive aktive Kräftigung der Rückenmuskulatur, die Dehnung der Brust- und Bauchmuskulatur sowie eine Haltungsschule. Eine Versorgung mit Orthesen oder Korsetten kann durchgeführt werden, wobei diese bis zum Abschluss des Wachstums getragen werden müssen und nur in Kombination mit einer intensiven muskulären Kräftigung sinnvoll sind. Ältere Jugendliche mit sekundärer muskulärer Tonussteigerung und Ansatztendinosen können mit physikalischen Behandlungen (z. B. Wärme, Ultraschall) behandelt werden.

Medikamentöse Therapie

Analgetika, Antiphlogistika.

Operative Therapie

Die operative Korrektur der Hyperkyphose ist nur sehr selten und bei ausgeprägten Fehlstellungen (thorakale Kyphose > 70°) indiziert. Der operative Ausgleich einer verstärkten Kyphosierung erfolgt in der Regel durch ein kombiniertes dorsoventrales Vorgehen, da erst nach Durchführung eines ventralen Release eine ausreichende Aufrichtung des Wirbelsäulenabschnitts durch eine dorsale Instrumentierung möglich ist.

Kurzbogige Kyphosierungen (z. B. im thorakolumbalen Wirbelsäulenbereich) werden zunächst von dorsal über einen Fixateur interne ausgeglichen. Anschließend erfolgt von ventral die Spondylodese mit oder ohne partiellen Wirbelkörperersatz. Dieses Verfahren ist der transpedikulären interkorporellen Spongiosaplastik hinsichtlich der Fusionsraten überlegen.

Dauertherapie

Keine. Nach Wachstumsabschluss ist mit keiner Progredienz der Deformität zu rechnen.

Bewertung

Die Erkrankung kann durch frühzeitigen Einsatz der konservativen Maßnahmen erfolgreich behandelt werden, wobei das Therapieziel in einer Stabilisierung der Wirbelsäulenausrichtung und Verhinderung progredienter Deformierung besteht.

Nachsorge

Neben der kontinuierlichen Durchführung der Kräftigungsübungen für die Rückenmuskulatur ist eine Sportberatung der Kinder und Eltern sinnvoll. Rudern, Fahrradfahren, Trampolinspringen und Kunstturnen gelten beispielsweise nicht als empfehlenswerte Sportarten. Schwimmen (Rückenschwimmen) sollte hingegen gefördert werden. Nach dem Wachstumsabschluss ist mit keiner wesentlichen Progredienz der Deformität zu rechnen.

Autor

Renée Fuhrmann